Die Sieben Farben der Nacht

Die Sieben Farben der Nacht. Marokkos Süden.

Ich hatte noch mein glattes europäisches Selbstbild ordentlich auf den Bügel gehängt, damit es keine Falten bekommt, und kann es nach der Lektüre nur durchlöchert wieder anziehen. Durch die Löcher leuchtet das Femde in den „sieben Farben der Nacht“.

Christa Ludwig | a tempo | 2-2021

Inhalt

Kaum ist der Ruf des Muezzins verhallt, erheben sich die Rasseln der Gnawa, die Schalmeien der Aissawa, die Trommeln und Geigen der Berber aus dem Atlas. Vielstimmig fallen sie der monotheistischen Stimme des Islam ins Wort.

Die Gnawa sind die Nachfahren schwarzer Sklaven. Ihre Kulte sind von den Traditionen der Berber beeinflusst und vom arabischen Sufismus. In Essaouira, einem wichtigen Zentrum der Gnawa, wird jedes Jahr eines der größten Musikfestivals auf afrikanischem Boden gefeiert: das viertägige Gnawa-Festival, zu dem bekannte Jazz- und Popmusiker aus aller Welt anreisen.

Eine „Lila“ der Gnawa dauert die ganze Nacht. Sieben unterschiedliche Geister (Mlouk) werden während der Zeremonie angerufen. Diesen Geistern sind sieben Farben und sieben Gerüche zugeordnet. Während sich die Teilnehmer in Trance tanzen, verbinden sie sich mit „ihrem“ Geist.

„Die Nasha, die eigentliche Reise zu den Geistern hat begonnen. Der Moqadem legt Räucherwerk und Kräuter auf die glühende Kohle. Parfüm, um die Geister zu betören. Ein Hin und Her, in dem sich der Moqadem und das Publikum gegenseitig hochschaukeln, call and responce, ein Erinnerungsstück aus dem Gepäck der schwarzen Sklaven.
In der Mitte stehen zwei ältere Frauen vornüber gebeugt, stampfen von einem Fuß auf den anderen.
Der Moqadem hat ihnen weiße Tücher übergeworfen. Die Tücher des Mlouk Abdelkadder Jilani, des Überbringers, der die Pforten zur Geisterwelt öffnet: „Ya g-gilali dawi hali …“, „…heile mich, o du Jilali, ich bin krank und habe keinen Heiligen, ich bitte um Gastfreundschaft, o du aus Bagdad!“

Rezensionen

Eckdaten

Andreas Kirchgäßner
Die sieben Farben der Nacht. Marokkos Süden
osbert+spenza
2020

Gebundene Ausgabe
176 Seiten
Lesealter: 18 Jahre und älter
ISBN-13: 978-3947941025
24,00 Euro

Erhältlich in jeder Buchhandlung, beim Verlag osbert+spenza oder mit einer Email-Nachricht über den Autor selbst.

Ebenso ist hier eine Hörfassung als CD mit Musik erhältlich, eingesprochen vom Schauspieler, Sprecher und Moderator Jürgen Jung.

Auszüge

Wir fahren eine fast schnurgerade Strecke, breit ausgebaut, neu asphaltiert. Gelber Ginster
fliegt an uns vorbei. Das Soustal wird immer grüner und in der Ferne recken sich die Gipfel
des Hohen Atlas schneebedeckt in den Himmel. Und dann ist da dieser Geruch. Erst langsam
kommen meine Sinne so zur Ruhe, dass ich ihn wahrnehme. Den Geruch von Trockenheit und
Staub und leichter Würze. Als hätten die Dornbüsche am Rand, der wilde Oleander, die Akazien,
Arganien und der Feigenkaktus, als hätten die Ziegen und die traurigen Esel die Luft ausgeatmet,
bevor ich sie einatme.

(…)

„As salâmu alêkum …“, sage ich.
„Enttîna kä-t eraf ed-dârija l-maghrîbiya!“
Ich verstehe kein Wort.

„War das schon alles, was du Arabisch kannst?“
Ich nicke beschämt: Leider!
„Nicht schlimm. Wir Marokkaner können alle Sprachen. Wir können noch mehr! Schau in meinen
Laden. Probier das. Bringt deine Haare zurück!“

Er zeigt auf meine Glatze.
„Soll ich es trinken oder mir auf den Kopf schütten?“
„Für deinen Kopf ist alles zu spät! Das Mittel macht dich unten stark! Und deine Frauen
glücklich!“ Er bricht in ein ansteckendes, glucksendes Gelächter aus. Ich lache mit. Die
Glückshaltigkeit des Augenblicks ist flüchtig wie ein Lichtschimmer.

(…)

Eine Gebirgskette erhebt sich wie ein Faltenwurf. Das Licht taucht die Landschaft in sanfte
Ockertöne. Aber der Schatten ist wie der Spiegel der Berge im Totenreich. Das ist er, der
flüchtige Anblick, für den ich hier bin. Ich weiß, so wird es jetzt hunderte, ja, weit über tausend
Kilometer nach Süden weitergehen, in diesem Rausch, Tafelberge, Gesteinsformationen, Sand.
Jeder von uns trägt eine Landschaft in sich. Meistens kennen wir sie nicht, diese innere Landschaft,
aber sie ist da. Sehen wir draußen dann eine Landschaft, die unsere innere widerspiegelt,
können wir plötzlich auch die Landschaft in uns sehen. Die Landschaft, durch die ich fahre,
ist mir vertraut, als wäre ich darin aufgewachsen.